
Wenn wir auf die andere Seite des Mittelmeers blicken, dann erschliesst sich uns eine andere Welt. Dort beginnt Afrika, jener riesige Kontinent, dessen Bevölkerung weiter stramm wächst und der bereits rund anderthalb Milliarden Menschen beherbergt. Jener Kontinent der Kontraste, auf dem der unglaubliche Reichtum der Erde – und auch einiger Menschen – mit der Armut von Hunderten Millionen koexistiert, die ihren Weg in die Moderne und ihre Annehmlichkeiten noch immer suchen. Jener Kontinent, auf dem demokratische Staatsführung bis heute nicht gesichert ist, und wo zahreiche Staaten immer wieder in die Logik von Wahlfälschung, Militärherrschaft und Unterentwicklung zurückfallen. Von Tunesien bis Südafrika ist es das gleiche Bild. Willkürherrschaft und Korruption verhindern, dass der Anspruch der Afrikaner auf ein normales Leben in bescheidenem Wohlstand und mit rechts- und sozialstaatlicher Absicherung erfüllt wird.
Viele Milliarden an „Entwicklungshilfe“ sind in den letzten Jahrzehnten nach Afrika geflossen, vor allem aus Europa. Diese Milliarden haben nichts bewirkt, was ihrem Zweck entsprochen hätte: der Lebensstandard des Kontinents ist heute nicht höher als in den sechziger Jahren. Natürlich hat die Bevölkerung durch hygienischen und medizinisches Fortschritt drastisch zugenommen – besser leben tut sie dafür, zumindest statistisch, nicht.
Seit 2010 hat China den afrikanischen Kontinent zum privilegierten Partner auserkoren und investiert dort Unsummen in Infrastruktur und Rofstoffausbeutung. Den Afrikanern kommen die chinesischen Partner gelegen: sie bestehen nicht weiter auf guter Regierungsführung, mischen sich nicht ein, sondern kümmern sich um ihre Geschäfte und ihren eigenen Vorteil. Aber natürlich entstehen durch chinesische Investitionen Perspektiven für Afrika, die von der kleinteiligen europäischen Entwicklungshilfe nicht offeriert werden. Zu einer sinnvollen Zusammenarbeit der europäischen Staaten und China, zugunsten der Entwicklung Afrikas, ist es bis heute nicht gekommen.
Seit rund einem Jahrzehnt ist auch Russland, in der Tradition der Sowjetunion, in Afrika zurück. Zuerst in der Zentralafrikanischen Republik, wo das völlige Versagen Frankreichs und Europas zum dauerhaften Staatszusammenbruch geführt hatte. Russische „Militärberater“ mit ihren Waffen wurden zur letzten Hoffnung des amtierenden Präsidenten, um endlich die Kontrolle über das Staatsterritorium zurückzugewinnen. Mittlerweile beherrscht Russland den gesamten Staat und seine erheblichen Ressourcen – so wie es mithilfe der Wagner-Truppen fast die gesamte Sahel-Region destabilisiert hat, und durch Staaten wie Südafrika willfährige Unterstützung für seine „anti-imperialistische“ Politik erfährt.
In dieser Gemengelage stellen sich für Europa in Afrika dringende und wesentliche Fragen, die viel damit zu tun haben, ob wir in der Welt ein Gestaltungsfaktor sind, oder nur noch Zuschauer des grösseren Geschehens. Die ehemaligen Kolonialmächte haben sich in den letzten Jahren sehr weitgehend aus afrikanischen Angelegenheiten zurückgezogen. Es werden keine strukturierten Partnerschaften mehr unterhalten, und teils übersteigen die nationalen und regionalen Dynamiken in Afrika alle Möglichkeiten europäischer Staaten, um dort noch Einfluss auszuüben.
Der europäische Rückzug befördert allerdings jene, die Interesse an einem schlecht regierten, korrupten Afrika haben, dessen Machthaber verlässliche Alliierte gegen den „Westen“ sind. Mit anderen Worten: wo Präsident Macron keinen Einfluss mehr nehmen will, tut das nun eben Putin. Davon hat nicht nur Frankreich überhaupt nichts, sondern die betroffenen afrikanischen Staaten haben davon noch viel weniger. Das lässt sich einer armen, wenig gebildeten und einfach nach Verbesserung ihrer Lebensbedingungen lechzenden Bevölkerung allerdings nur schwer vermitteln. Deswegen schwenkt man russische Fahnen in Bamako und huldigt einer Clique von dümmlichen Offizieren, die dort die Herrschaft an sich gerissen haben.
Der europäische Rückzug aus Afrika ist in Wirklichkeit brandgefährlich. Nicht, dass Europa dort keine Alliierten mehr hätte. Immerhin gibt es 54 Staaten auf dem Kontinent, und nicht alle sind unverbrüchliche Fans von China oder Russland. Doch wenn übergeordnete Dynamiken entstehen, die klassische Ressentiments bedienen – China und Russland führen sich in Afrika auf, als seien sie wohltätige Vereine, die nie jemanden unterjocht haben, im Gegensatz eben zu Europa – dann riskiert der afrikanische Kontinent, sich in grossen Teilen von Europa abzuwenden. Und, um es unmissverständlich zu formulieren: Europa kann sich einen ziemlich armen Nachbarkontinent nicht leisten, der uns nicht leiden kann.
Europa fabuliert seit Jahrzehnten von einer grossen Kooperationsstrategie, mit der Europa und Afrika gemeinsam, als Nachbarn, Freunde und Partner, für Entwicklung, Wohlstand und Fortschritt sorgen sollten. Bis heute ist „EU-Africa“ allerdings nur ein Begriff. Worin genau die Partnerschaft bestehen soll, was bewirkt werden soll und was verhindert, erschliesst sich kaum jemandem. Ein Entwicklungskommissar nach dem anderen scheitert daran, die Worthülse endlich mit Inhalt zu füllen. Natürlich ist es bei der Ausgestaltung einer wirklichen Partnerschaft zwischen der EU und Afrika nicht hilfreich, wenn missionarische Gestalten wie Emmanuel Macron beschliessen, Afrika ginge sie eigentlich nichts mehr an. Der europäische Einflussverlust in Afrika ist eine direkte Konsequenz der völlig verfehlten Afrikapolitik des französischen Präsidenten – der nun versucht, zu retten, was noch zu retten ist.
Die Europäische Union muss endlich begreifen, dass das, was in Afrika passiert, uns unmittelbar betrifft. Wenn China und Russland den Kontinent zu einem Vorposten antiwestlicher Einstellung und Politik umgestalten, dann ist das eine feindliche Handlung gegenüber Europa. Gegenüber den Vereinigten Staaten und anderen Akteuren des globalen Westens natürlich auch, aber die sind alle weit weg. Uns trennt von Afrika eine Meerenge von 14 Kilometern bei Gibraltar.
Wenn wir es ernst meinen mit der globalen Einhegung Chinas und dessen Einbindung in eine gemeinsame Gouvernance-Logik für unseren Planeten, wenn wir es ernst damit meinen, russische Aggressivität und Okkupantenmentalität zu bekämpfen, dann dürfen wir Afrika nicht diesen beiden Akteuren überlassen. China ist in Afrika, um zu bleiben, das sollten wir hinnehmen und nach Formen der Zusammenarbeit suchen. Russlands Einfluss in Afrika muss genauso zurückgedrängt werden, wie die russischen Truppen aus der Ukraine. Nichts davon werden die Amerikaner uns abnehmen. Afrika ist unser Nachbar. Wenn es bei dem brennt, hilft man löschen. Tut man es nicht, darf man sich nicht wundern, wenn der Brand auf das eigene Haus übergreift.