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Löcher in Europas Rock

Als das SED-Regime in der ehemaligen DDR 1989 wankte, begannen die Menschen dort, an eine bessere Zukunft zu glauben. Nicht mehr als abstrakte Idee, wie sie wohl Millionen DDR-Bürger über Jahrzehnte mit sich herumtrugen, sondern als recht kurzfristige, reale Perspektive. Und sie hatten Glück.

Die ehemalige DDR regierte sich noch ein paar Monate selbst und wurde dann Teil der Bundesrepublik Deutschland. Mitsamt EU- und NATO-Mitgliedschaft, und von den bundesrepublikanischen Autoritäten bedacht mit vielen Milliarden an Zuwendungen, die Helmut Kohls „blühende Landschaften“ tatsächlich Wirklichkeit werden liessen. Ja, es dauerte länger als gedacht und war härter als erhofft – aber es funktionierte. Und auch wenn viele DDR-Bürger den „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ im nachhinein eher als feindliche Übernahme empfanden – sie waren nun dabei. Andere hatten dieses Glück nicht.

Zwischen 1989 und 1991 entstanden neue demokratische Staaten überall in der Mitte und im Osten Europas. Einige davon stellten eine alte, durch Besatzung ausgesetzte Eigenstaatlichkeit wieder her, wie die Esten, Letten und Litauer. Andere trennten sich friedlich vom Staatspartner der kommunistischen Zeit – Tschechen und Slowaken. Und dann entstanden oder wieder-entstanden auch noch jene Staaten, die das frühere Jugoslawien ausmachten und zum europäischen Teil der Sowjetunion gehörten. Die hatten es am schwersten. Ihre neue Souveränität wurde von Kriegen begleitet und bis heute werden sie in ihren Grenzen und ihrem Selbstverständnis von Anderen infrage gestellt. Zur Europäischen Union gehören viele von ihnen bis heute nicht. In Ermangelung wirklichen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts laufen ihnen die Menschen weg. Diese Staaten sind heute Löcher in Europas Rock.

Bosnien und Herzegowina ist heute eigentlich ein gescheiterter Staat. Montenegro wurde über lange Zeit als adriatische Räuberhöhle für die Reichen Russlands geführt, Albanien musste sich über Jahrzehnte durch wirtschaftliche und politische Krisen quälen, Kosovo wird bis heute von Serbien in seiner Existenz bedroht. Weiter östlich erlebt die Republik Moldau den andauernden, von Russland befeuerten Separatismus der „Republik Pridnestrowien“, in unseren Gegenden als Transnistrien bekannt, und die ständige Unterwanderung der Wirtschaft und des Staates durch russische Interessen, mit den entsprechenden finanziellen Mitteln. Sie alle wollen nach Europa. Sie alle müssen schnell nach Europa finden.

Der russische Angriff auf die Ukraine hat dazu geführt, dass sowohl der Ukraine wie auch Moldawien, wie ich es immer noch gelegentlich nenne, der EU-Kandidatenstatus zuerkannt wurde. Den haben die Staaten des Weltbalkan in ihrer Mehrheit schon lange – und dennoch zieht sich der Beitrittsprozess scheinbar endlos hin. Ganz davon abgesehen, dass es innerhalb der Europäischen Union für diesen Teil Europas keine sonderlich grossen Beitrittssympathien gibt. Die Ukraine und die Republik Moldau würden in den Augen der öffentlichen Meinung im Westen eher Gnade finden, als Bosnien und Herzegowina, Albanien und Nordmazedonien. Dennoch: Ukraine und Moldau gehören ebenso dazu, wie der gesamte Westbalkan. Dauerhafter Frieden wird in Europa nur möglich sein, wenn ALLE europäischen Staaten in der EU angekommen sind.

Das klingt pathetisch, stimmt aber. Auf dem Balkan wird früher oder später wieder ein Krieg ausbrechen, der von grossserbischen Fantasmen angefacht wird – ausser, auch Serbien tritt bald der EU bei, zusammen mit all seinen Nachbarn, und territoriale Fragen verlieren so drastisch an Bedeutung. Dass Serbien zu rechtsstaatlicher Verlässlichkeit fähig ist, beweist seine eigene neuzeitliche Geschichte. Es wird Zeit, die Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger und die anschliessende Herabwürdigung Serbiens in Europa zu überwinden. Erst dann wird auch Serbien eine ähnliche Herabwürdigung verschiedener Nachbarn – mitsamt der regelmässig errichteten Drohkulisse – unterlassen.

Das Fürstentum Serbien gab sich 1835 die erste liberale Verfassung Europas – die es nach weniger als zwei Monaten auf Druck der absolutistisch geführten grossen Monarchien Europas wieder ausser Kraft setzen musste. Serbien war Vorreiter einer staatlichen Ordnung, die man als Demokratie bezeichnen konnte. Diese liberale Logik inspirierte die weitere Entwicklung der serbischen Staatlichkeit – bis diese zugunsten der grossartigeren Idee eines südslawischen Gesamtsstaats in den Hintergrund trat. Heute betrauern die Serben die grossen Zeiten, als man einen ganzen jugoslawischen Staat dominieren konnte und dessen Territorium eben gleich mit. Ein Kloster, das hinter einer schwer zu passierenden Grenze beim Nachbarn steht, kann als Kriegsgrund angesehen werden. Wenn das Kloster nur noch jenseits einer EU-Binnengrenze liegt, wird sich vieles beruhigen. Dafür müssen Serbien und alle seine Nachbarn auf dem westlichen Balkan in die EU.

Schlussendlich ist die Frage der nächsten, abschliessenden Erweiterung eine Frage darüber, ob die europäische Union sich selber ernst nimmt. Die Staaten des Westbalkan, die beitreten sollen, haben zusammen heute weniger Einwohner als die Niederlande. Von was fühlen sich diejenigen bedroht, die einen Beitritt dieser Staaten unter keinen Umständen wollen? Wie schwierig war es, Rumänien aufzunehmen – das noch rund 19 Millionen Einwohner hat und heute selbstvertändlich zur EU gehört? Wieso wird in so vielen Gesellschaften des Südens, des Westens und des Nordens Europas so viel Aufhebens um 17 Millionen europäische Menschen und ihre Staaten gemacht, die seit Jahrtausenden in dieser oder jener Form genauso zu Europa gehören, wie Luxemburg oder Irland? Insgesamt 17 Millionen Menschen leben noch in den sechs Staaten des westlichen Balkan. Der Bevölkerungsausfluss dort dauert an, in allen sechs Staaten, und die Millionen Menschen, die von dort weggegangen sind und noch immer weggehen, kommen in die Europäische Union. Wir sollten sie mitsamt ihren Staaten in diese aufnehmen anstatt einzeln. Und zwar jetzt!

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