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Wou ass Europa an der Welt?

Afloss iwwer eis Geografi eraus

Europa ist der zweitkleinste Kontinent. Hinter uns kommt nur noch Australien. Von den rund 10 Millionen Quadratkilometern Europas – so etwas entspricht der Grösse Chinas, der USA oder Kanadas – befindet sich fast die Hälfte in Russland. Dort liegt auch „Europas höchster Berg“. Mit der russischen Bevölkerung im europäischen Teil dieses Landes kommt Europa auf eine Bevölkerung von rund 700 Millionen. Das ist, bei einer Weltbevölkerung von über acht Milliarden Menschen, nicht mehr der relevanteste Teil des Ganzen. Europa ist demnach weder geografisch noch demografisch gesehen eine Grösse.

Aus der Geografie ergeben sich geopolitische Zusammenhänge. Da wäre – noch einmal – die Nähe zu Russland und die Tatsache, dass Russlands Geschichte in wesentlichen Teilen europäische Geschichte ist – nicht erst, seit Zar Peter mit seiner Stadtneugründung am baltischen Meer Russland als europäische Macht bestätigen wollte. Da wäre die Tatsache, dass wir die Türkei nicht als Teil Europas betrachten, sie aber ebenfalls einen erheblichen Anteil an europäischen historischen Entwicklungen hatte und weiter hat. Es ist ja kein Zufall, dass es auf dem Balkan Millionen Muslime gibt – die Vorfahren dieser Menschen wurden im Osmanischen Reich konvertiert. Und da ist natürlich auch die Nähe zu Afrika, dessen nördliche Küsten Teil des Römischen Reiches waren und anschliessend der westliche Verbreitungsraum des Islam, seit dem 7. Jahrhundert. Heute bedeutet die Nähe zu Afrika eben auch die Nähe zu aktuellen und zukünftigen Migrationsströmen, deren Intensität und Dimension in der Zukunft sehr wahrscheinlich zunehmen wird.

Russland, die Türkei, Afrika – das sind Partner in Beziehungen, die nie konfliktfrei waren. Darüber hinaus hat sich zuerst der westliche Teil Europas, in Zeiten des real existierenden Sozialismus, als Teil des „globalen Westens“ gesehen und strukturiert. Diese begriffliche Zugehörigkeit wurde vom mittleren und östlichen Europa übernommen, als dies nach dem Zusammenbruch des globalen sozialistischen Lagers möglich wurde. Atlantische Bündniszugehörigkeit und geografische Lage zwischen komplizierten Nachbarn machen heute einen wesentlichen Teil der geopolitischen Realität Europas aus. Das – und die zunehmende Bedeutungslosigkeit Europas in allen möglichen globalen Zusammenhängen.  

Andere haben mehr Bevölkerung, eine jüngere Bevölkerung, den Glauben an den möglichen Aufstieg. Europas Bevölkerung altert, seine Gesellschaften haben viele ihrer einstmaligen Ambitionen verloren. Andere sichern sich Rohstoffe, Einfluss und Anerkennung, Europa will von vergangener Glorie leben und in vermeintlich wohl verdientem Wohlstand und Komfort funktionieren. Das wird nicht funktionieren. Wohlstandssicherung wird es nicht umsonst geben – und auch nicht ohne die Bereitschaft, für die europäische Sache zu kämpfen.

So steht Europa in der Welt da – eine zwar skizzenhafte, aber realistische Positionsbestimmung. Von dem beschriebenen Standort aus sind nun ein paar Bewegungen notwendig, um die europäische Position zu stärken und unseren Einfluss auf globale Dynamiken zu erhöhen. Bewegt sich Europa nämlich nicht, wird es in fünf oder zehn Jahren zumindest eingequetscht, wenn nicht zerquetscht werden – zwischen und von globalen Akteuren, die auf niemanden Rücksicht nehmen, und denen europäische Befindlichkeiten zu Sicherheit, industriellen Standards und der internationalen Rechtsordnung herzlich egal sind.

Die erste Bewegung, die Europa vollziehen muss, ist die zur Festigung seiner Sicherheitsposition. Dazu gehört eine substanziell erhöhte Verteidigungskapazität und die internationale Perzeption einer europäischen Bereitschaft, für unsere Ordnung, unser Rechtssystem, und unser Territorium zu kämpfen. Dazu gehört eine europäische Rüstungsindustrie, einsatzfähige und interoperable Armeen und eine europäische Befehlsebene für alle Armeen der Union. Die NATO-Kommandostruktur reicht nicht mehr aus. Das alles wird politisch unter der Autorität eines in der EU für Sicherheit und Verteidigung zuständigen Menschen organisiert werden müssen. Ein Verteidigungskommissar. 

Ja, der Krieg in der Ukraine ist unser Krieg. Ja, Russland muss durch europäische Entschlossenheit in seine international anerkannten Grenzen zurückgedrängt und dort gehalten werden. Ja, dazu muss man bereit sein, gegebenenfalls Krieg zu führen. Wenn wir diesen einen notwendigen Verteidungskrieg nicht zu führen bereit und fähig sind, geben wir uns auf Dauer der internationalen Lächerlichkeit preis. Dann brauchen wir über die weiteren Bewegungen gar nicht mehr zu reden oder zu schreiben. Niemand wird eine Europäische Union ernst nehmen, die einerseits Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine führt und andererseits nicht dafür sorgt,  dass sie in jenen Grenzen, die sie seit der UNO-Gründung 1945 besitzt, beitreten wird. Die Ukraine war übrigens Mitgründer der UNO. Russland nicht.

Damit die EU in Verteidungs- und Sicherheitsangelegenheiten erkennbar und sichtbar wird, muss sie nicht nur ihre Schlagkraft und Einsatzfähigkeit erhöhen. Sie muss auch mit den europäischen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats, vor allem mit Frankreich, eine Form finden, um in der UNO in Erscheinung treten zu können, wenn dies notwendig ist. Dass Frankreich dazu bereit wäre, einen eventuell nicht-französischen Europäer an seiner statt im Sicherheitsrat auftreten zu lassen, wäre ein starkes Signal an die Welt: trotz der unerträglichen Unreformierbarkeit der UNO finden wir Wege, um Europa dort in die Lage zu versetzen, seine Standpunkte international verbindlich zu artikulieren. Dies wäre auch vielleicht eine Inspiration für die Afrikanische Union, sich ähnlich um rotierende afrikanische Sicherheitsratsmitglieder zu organisieren. Die EU sollte der AU diesbezüglich ein koordiniertes Vorgehen vorschlagen.

Die dritte Bewegung betrifft die Organisation des globalen Handels. Dort müssen dringend europäische Positionen rechtswirksam gestärkt und zukünftige Standards von Europa inspiriert werden. Es muss absolut und sofort Schluss sein mit der regelrechten Verramschung europäischer kritischer Infrastruktur. In China wäre es völlig undenkbar, dass jemand nicht Chinesisches einen Hafen oder Flughafen besitzt. Wieso verhökern wir unsere Transportinfrastruktur an China? China und anderen globalen Wirtschaftsakteuren muss ein überzeugendes Angebot zur Neubegründung internationaler Zusammenarbeit unterbreitet werden. Das schliesst eine offene, ehrliche und dem Gemeinwohl dienliche Kooperation in und für Afrika ein, und antieuropäisches Vorgehen in Afrika explizit und resolut aus. Dazu gehört evidenterweise auch die Eindämmung russischen Einflusses in Afrika. Sollte China dabei nicht mitziehen wollen, muss es emfindliche Verschlechterungen beim europäischen Marktzugang erfahren. Die Chinesen werden verstehen.

Zu einer solchen Demarche gehört natürlich auch, dass Europa in Sachen Energie der Zukunft seine eigene Infrastruktur produzieren und betreiben kann. Das ist aktuell absolut nicht der Fall. Von Windrädern über Solarpaneele bis hin zu Elekrolyseuren – ohne chinesische Lieferanten wird es keinen europäischen Green Deal geben. Das allein zeigt, wie lächerlich unfähig Europa ist und auf seine globale Konkurrenz wirkt. So kann es nicht weitergehen. Es braucht einen energie-industriellen Ruck in Europa, und die Politik muss sicherstellen, dass die Wirtschaft den in erheblichem Mass mitfinanziert. Anreize hierzu werden nicht reichen. Es muss auch die Perspektive sehr schmerzhafter Konsequenzen aus der Verweigerung geben, endlich für Europa zu arbeiten und nicht ausschließlich für die eigene Kontofüllung. So funktioniert das überall auf der Welt – außer in Europa. Das ist eine Schande. Wenn Europa diese Schritte gelingen – und die kommende Amtsperiode von Europäischer Kommission und Parlament ist der Zeithorizont, der für sie zur Verfügung steht – dann kann unsere Stellung in der Welt sehr schnell eine andere sein. Eine, die dem Anspruch des europäischen Kontinents entspricht, in der Welt zu führen und jenen Fortschritt zu bewirken, den die Menschheit in dieser Zeit braucht. Wir müssen ganz einfach aufhören, darüber zu reden, was alles nicht funktioniert. Das wissen wir bereits. Die Frage ist jetzt: werden wir es zum Funktionieren bringen?

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