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Zurück nach Königsberg

Es war einmal eine stolze Stadt am Pregel. Nicht weit entfernt von den Küsten des Baltischen Meeres – auf deutsch recht prosaisch als „Ostsee“ bekannt – entwickelte sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ein Zentrum des Handels und der Kultur, das vor Berlin Haupt- und Krönungsstadt der Könige Preussens war und wo Immanuel Kant sein gesamtes Leben verbrachte. Hier verfasste er den philosophischen Entwurf „Zum Ewigen Frieden“, der essentielle Richtlinien für ein zivilisiertes Zusammenleben von Staaten bestimmt. Die Universtät der Stadt trägt bis heute seinen Namen. Über seine Stadt schrieb er:

„Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, – eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“

Doch dann kamen die Nazis, der Krieg und die deutsche Niederlage. Die Rote Armee besetzte Königsberg und das Gebiet um die Stadt, in der kein Deutscher geblieben war – oder am Leben gelassen wurde. Eine neue Bevölkerung wurde aus der gesamten Sowjetunion herbeigeschleppt, vor allem aus Russland. Königsberg wurde nach dem sowjetischen Präsidenten Kalinin umbenannt, Kaliningrad wurde eine der vielen geschlossenen Städte der Sowjetunion, von hoher militärischer Bedeutung mitsamt dem Kriegshafen Baltijsk und dem Zugang zur eisfreien Ostsee. Irgendwann war die Sowjetunion vorbei und die baltischen Staaten erhielten ihre Unabhängigkeit zurück. Kaliningrad wurde zur Exklave der Russischen Föderation, ein Gebiet von 15.000 Quadratkilometern und einer Million Einwohnern, das zwischen Litauen, Polen und der Ostsee die westlichste Position Russlands darstellt. Und das vor Waffen starrt – wohl auch solchen mit nuklearer Bestückung.

Kaliningrad sollte eine erfolgreiche Sonderwirtschaftszone werden, das Vorhaben scheiterte. Kaliningrad sollte zur Verständigung zwischen Ost und West beitragen, wieder ein Zentrum des Geistes werden – doch blieb letztendlich „La petite Russie d’Europe“, wie ein schöner Bildband über die Region von Dominique de Rivaz und Dmitri Leltschuk übertitelt ist. Seit Beginn des Ukrainekrieges ist die Versorgung der Region und ihrer Bevölkerung von Russland aus nicht mehr ganz so einfach. Die Züge müssen Territorium der Europäischen Union durchqueren, um Kaliningrad zu erreichen, die alten sowjetischen Schienenstränge führen durch Litauen – und Litauen hat seit langem beschlossen, diese Exklaven-Transporte besonders rigoros zu kontrollieren und ihren Umfang zu begrenzen.

Millionen Ukrainer in den besetzten Gebieten im Osten haben keine Möglichkeit mehr, in ihr eigenes Land zu reisen. Russland verwehrt ihnen das, sie sollen Russen werden und sich mit Russland identifizieren. Das werden sie nicht tun, doch eingekerkert in der Dunkelheit der russischen Besatzung sind sie allemal. Es wird Zeit, Russland mit seinen eigenen Praktiken zu begegnen. Kaliningrad sollte von der nicht-russischen Aussenwelt abgeriegelt werden. Keine Züge und keine Busse mehr durch europäische Länder, keine Flugzeuge, die den Luftraum der EU nutzen (müssen).

Russland hält Europa für eine Bande verweichlichter Feiglinge, die sich nicht traut, seiner faschistischen Diktatur resolut entgegenzutreten. Wir müssen ihm also zeigen, dass seine Sicht auf uns falsch ist. Dazu müssen zwei Dinge passieren. Das erste ist: Russland muss international wirklich isoliert werden. Jene zahlreichen Länder, auch vermeintliche Partner Europas, die nicht nur selber alle Kanäle nach Russland offen halten, sondern auch Embargos brechen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wer zum Beispiel vom Embargo betroffene Güter importiert, um sie dann nach Russland weiterzuleiten, muss mit empfindlichen Handelssanktionen belegt werden. Das wird man überall verstehen, sogar in China. Und das zweite ist: Kaliningrad muss von der nichtrussischen Aussenwelt abgeschnitten werden.

Die Versorgung Kaliningrads hängt ausschliesslich von Russland ab, und sie logistisch umzuleiten und zu erschweren, bedeutet nicht, sie zu verhindern. Es geht nicht darum, einer Million Menschen das Leben unmöglich zu machen, sondern darum, Russland zu verdeutlichen, dass Europa nicht mehr spielt. Die Stationierung aller möglichen Waffensysteme in Kaliningrad hätte nie zugelassen werden dürfen, Russland hätte dort niemals eine baltische Angriffsfestung errichten dürfen. Hat es aber. Und jetzt muss sie unschädlich gemacht werden, die baltische Festung.

Dies passt wunderbar in die Rubrik: der Westen hat Russland schliesslich provoziert, deswegen muss es die Ukraine in Schutt und Asche schiessen. Der Westen hat zugelassen, dass eine Miniregion Russlands fünfhundert Kilometer von Berlin entfernt als nuklearer Flugzeugträger ausgerüstet wird, und sich nicht weiter beschwert. A propos Berlin: das wurde 1948 auf existenziell bedrohliche Weise von Sowjetrussland blockiert. Es ist Zeit, die Dinge wieder gerade zu rücken. Gleichzeitig sollte man Kaliningrad ein Angebot machen, das es nicht dauerhaft ablehnen will.

Das Kaliningrader Gebiet ist tatsächlich von der NATO umzingelt. Das ist auch gut so, denn nur so kann wahrscheinlich verhindert werden, dass von dem Territorium grösserer kriegerischer Unfug ausgeht. Die Einkreisung ist das eine. Eine Diskussion darüber, wie Kaliningrad wieder jener von Immanuel Kant beschriebener „schicklicher Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis“ werden könnte, ist etwas anderes. Eine tiefer gehende Überlegung zu genau dieser Dimension wäre heute sinnvoll.

Kaliningrad ist das europäischste Subjekt der Russischen Föderation. Das „Zentrum Europas“, also des geografischen Kontinents, soll verschiedenen Berechnungen zufolge ganz in seiner Nähe liegen, auf litauischem Territorium. Die Reichsbahn fuhr Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Passagiere in rund sechs Stunden von dort ins 550 Kilometer entfernte Berlin. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es Fähren von Baltijsk – das alte Pillau – nach Sassnitz auf Rügen. Von Danzig aus würde man, gäbe es die russische Grenze nicht, Kaliningrad in zwei Stunden mit dem Auto erreichen, von Warschau aus in vier. Es gibt eigentlich kaum einen besseren Ort, um die verschiedenen Dimensionen und kulturellen Ausprägungen Europas einander näher zu bringen.

Wir sollten uns etwas ausdenken, was für Kaliningrad – auch und eben gerade für Kaliningrader Russen – eine Zukunftsperspektive darstellt, die es aus dem Moskowiter Obskurantismus herausreißen und fest in einem liberalen und freien Europa der Zukunft verankern würde. Ein europäisches Territorium, offen für all jene Einflüsse, die Kant dort ein erfülltes und zufriedenes Leben ermöglichten, würde das europäische Baltikum um einen russischen Teil ergänzen. Ein europäisches Territorium mit eigener Regierung und Verwaltung. „La petite Russie d’Europe“ als eigenständiger Staat, in dem russische Menschen mit anderen zusammen eine russisch geprägte europäische Freiheitsordnung um jenen Ort herum schaffen, an dem Immanuel Kant die geistigen Grundlagen für ewigen Frieden suchte.   Dazu bräuchte es neben einer völlig neuartigen Verfassungsperspektive und einem tragfähigen politischen Konzept natürlich auch eine entsprechende Willensäußerung der Kaliningrader Bevölkerung. Auch das wäre für Russland nichts Neues: was auf der Krim und im Donbass so gut geklappt hat, sollte unter europäischem Schutz auch in Kaliningrad funktionieren. Man darf davon ausgehen, dass auch die Kaliningrader letztlich mit ziemlicher Mehrheit zurück nach Königsberg wollen. Dorthin sollten wir ihnen einen Weg öffnen.

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