
Er hat es geschafft. Wie seine ehemalige Sprecherin Kellyanne Conway es ausdrückte: Donald Trump hat jetzt die „größte zweite Chance“, die ein Mensch je bekam. Seit Grover Cleveland am Ende des 19. Jahrhunderts war es keinem Präsidenten der USA gelungen, nach einer Abwahl noch einmal ins Amt zurückzukehren. Donald Trump hat das geschafft. Und Europa muss deswegen nun seinerseits diese größte Chance nutzen, endlich selbständig zu werden und sich nach innen und nach außen Achtung und Anerkennung zu verschaffen. Dadurch, dass uns Trumps Sieg nicht aus der Bahn wirft, sondern uns endlich auf Spur bringt.
Dieser Sieg Trumps ist nicht, was sich das politische Establishment erhofft hatte – nicht in den Vereinigten Staaten, und noch weniger in Europa. Doch seit Trumps erster Wahl und den vielen Erfolgen rechtsextremer Parteien in Europa seitdem sollten wir verinnerlicht haben, dass „das Volk“ in dieser Angelegenheit die Dinge durchaus anders sieht, als die traditionell politisch Verantwortlichen. Tatsächlich lagen auch jetzt in den USA – wieder einmal – die Meinungsforscher völlig daneben. „The people“ haben mit einigen Millionen Stimmen Vorsprung Donald Trump zu einer zweiten Amtsperiode verholfen. Dieser Sieg hat nichts knappes, nicht bei der bundesweiten Mehrheit der Stimmen, und nicht in den Bundesstaaten. Und, um es gleich überdeutlich zu sagen: das ist auch gut so.
Es ist gut, denn ein eindeutiger Sieg Donald Trumps erlaubt es allen, die dieses Resultat nicht wollten, sich ab sofort klar darüber zu werden, dass dieser Mann am 20. Januar 2025 mit einer sehr viel radikaleren Agenda ins Weiße Haus einziehen wird, als noch 2016. Man kann sich nun zweieinhalb Monate lang darauf vorbereiten, dass die Welt dann eine andere sein wird. Nicht erst nach wochenlangem Nachzählen extrem knapper Wahlresultate, nicht nach einer zermürbenden Hängepartie und wohl damit einhergehenden Ausschreitungen auf der Straße, nein: ab sofort. Es wird nicht, wie 2000 bei der Niederlage Al Gores, wochenlang bang gehofft werden, dass sich doch noch irgendwo ein Dutzend Stimmen finden, die alles verändern. Am 6. November 2024 ist klar, dass ab dem 20. Januar 2025 vieles anders werden wird in der Welt. Was genau das sein wird, darüber wird uns der Hauptprotagonist dieser Veränderung wohl schon sehr bald Aufschluss geben.
Ist dieses Resultat in den USA eine Überraschung, ein Schock gar, wie einige Presseorgane heute meinen? Nein. Die Wahrscheinlichkeit dieses Wahlausgangs war seit Jahren gegeben. Daran konnte auch der kurzzeitliche Schwung, den die Ersetzung des Kandidaten Biden durch Kamala Harris bewirkte, nichts strukturelles ändern. Und was ist laut den Erkenntnissen der Wahlnacht der Hauptgrund dafür, dass die Menschen in den USA, darunter viele Millionen durchaus Vernunftbegabte, Trump ins Weiße Haus zurückgeholt, und ihm wohl auch zusätzlichen Spielraum im Kongress verschafft haben? Na, wie schon Bill Clinton sagte: „It’s the economy, stupid“. Auf die Wirtschaft, auf die materiellen Lebensbedingungen der Menschen kommt es an. Und die sind in den vier Jahren der Präsidentschaft Joe Bidens nicht derart besser geworden, dass die Wählerschaft zufrieden einer Demokratin den Weg zur Präsidentschaft geebnet hätte.
Den Menschen in Amerika ist Außenpolitik, wie viele Exit Polls in der Wahlnacht zeigten, herzlich egal. Auch die Abtreibungsfrage, die von den Demokraten fast als einziges inhaltliches Element in die Kampagne eingebracht wurde, rangiert weiter hinten bei den Sorgen der Wählerinnen und Wähler. Ihnen geht es, wie in Europa zunehmend auch, darum, wie es ihnen selbst geht, finanziell, materiell. Wer auch immer verspricht, sich genau darum zu kümmern, kann mit Zustimmung rechnen. Und wer eine ganze Kampagne lang vor allem vor der Gefährlichkeit des Anderen warnt, ohne selbst wirklich klar auszusprechen, was man denn wirtschaftlich und sozial vorhat, der redet an zu vielen Wählern vorbei. Auch wenn er eigentlich recht hat – aber darum geht es in der Politik des Jahres 2024 nicht mehr. Auch bei uns nicht.
Vieles weniger nachvollziehbare spielt in dieses Resultat hinein. Es ist eigentlich unverständlich, dass Dutzende Millionen Menschen ihre Stimmen einem verurteilten Verbrecher geben, der sich ständig in den wildesten Verschwörungstheorien ergeht, keinerlei Respekt vor anderen Überzeugungen hat und eigentlich nicht einmal fähig ist, in seiner Muttersprache einen Satz zu formulieren, der ein Vokabular von mehr als 15 Wörtern voraussetzt. Es fehlen zwar die Wörter, nicht aber die Worte: Trump macht mit einfachen, eindringlichen Aussagen deutlich, was er will – und eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler versteht und will das auch.
So vertrauen sie eher ihm, als einer Kandidatin, die es in vier Jahren als Vizepräsidentin nicht geschafft hat, etwas von dem umzusetzen, was sie jetzt als Präsidentschaftskandidatin der letzten Minute ankündigte. Natürlich war sie nicht auf diese Kandidatur vorbereitet, natürlich war ihre Kandidatur ein Wagnis, natürlich kann sie nicht eine Bewegung in ein paar Wochen zurückschlagen, die in vier Jahren seit Trumps Wahlniederlage 2020 gewachsen ist. Nun ist es, wie es ist.
Donald Trump hat keine Ahnung von komplexen Sachverhalten. Weder in der Wirtschaft, noch in der Geopolitik, nicht in Sicherheitsangelegenheiten und nicht bei klima-, energie- oder gesellschaftspolitischen Fragen. Dennoch – oder gerade deswegen – wird er gewählt. Trump ist fleischgewordene Ideologie, und nur das. Er vermittelt – ob er selbst daran glaubt oder nicht, spielt keine Rolle – ein in sich geschlossenes, unantastbares und unverrückbares Dogma. Er alleine weiß, wie die Dinge sind, und wer das nicht genauso sieht, ist kein anders Denkender, sondern ein Feind. All die simplen Menschen der europäischen Rechten, die linken Parteien, und besonders den Grünen, „ideologische“ Politik vorwerfen und Trump nicht nur heimlich anhimmeln, gehen ihm solchermaßen auf den Leim: der Ideologe ist er. Die Ideologen Europas sind nicht die Grünen, sondern die harte Rechte, die auf kurz oder lang genau wie Trump das Denken der anderen verbieten will, weil sie ihm nicht folgen können.
Die Vereinigten Staaten stehen sehr wahrscheinlich bis zum 20. Januar 2025 nicht vor einer Amtsübergabe, sondern vor der Übernahme der totalen Macht. Der Gebrauch dieses Wortes, das in Europa so schrecklich lächerlich wirkt – was kann „Macht“ schon in einem Land von einer, fünf oder 20 Millionen Menschen bedeuten? – ist hier sehr angebracht. Die USA sind die größte Volkswirtschaft der Welt, haben die schlagkräftigsten Streitkräfte und dominieren immer noch Finanz und Handel weltweit. Wer sie, wie Donald Trump, total kontrollieren und neu orientieren will, strebt nach der totalen Macht. Dabei werden ihm Psychopathen wie Elon Musk kräftig zur Hand gehen. Die geistige Balance der kommenden US-Regierung wird sehr schnell Experten beschäftigen. In der Zwischenzeit werden sie an ein Werk gehen, das für den Planeten nichts Beruhigendes haben wird.
Dennoch ist das alles gut so. Es ist notwendig. Nach dem schwachsinnigen Hype der letzten Jahre, wo alle und jeder sich in jeder erdenklichen Position und Situation fragte, was wohl passieren würde, wenn Donald Trump wieder die Macht übernähme, ist es notwendig, dass er es jetzt tut. Wir haben alle jahrelang nichts getan, weil wir Trump fürchteten, ohne dass er da war. Wir haben der Ukraine nie ausreichend Waffen geliefert, damit sie den Krieg tatsächlich hätte gewinnen können, bevor Trump wieder an der Macht ist. Diese erbärmliche Feigheit vor allem der Europäer wird jetzt zur Konsequenz haben, dass wir weitere Millionen Ukrainer werden aufnehmen müssen, weil die Ukraine tatsächlich den Krieg und ihr halbes Territorium verliert. Dann riskieren andere Staaten ähnliches wie das, was der Ukraine widerfährt. Sei’s drum. Wenn Europa es anders nicht versteht, dann eben so. Russland wird niemals die Vereinigten Staaten angreifen. Bei Europa bin ich da überhaupt nicht sicher.
In Europa müssen die Anhänger Orbans, Wagenknechts, Le Pens, Kickls, Wilders‘ und anderer nun lernen, was es heißt, wenn in den Vereinigten Staaten ein Kumpel ihres jeweiligen Chefs regiert, dem Europa völlig egal ist. Mehr noch: der Europa nicht leiden kann, weil bei uns die Dinge etwas komplexer sind als in seiner Scheinwelt, bei uns viele verschiedene Sprachen gesprochen werden, und weil wir nicht genug schlechte amerikanische Autos und synthetische amerikanische Hähnchen kaufen.
Deswegen muss Europa nun im Schnelldurchlauf lernen, sich um sich selbst zu kümmern und auf sich selber aufzupassen. Die unbeschwerte Jugend Europas ist vorbei. Nun kommt die raue Zeit des Erwachsenseins in einer Welt der Unsicherheit und der Bedrohungen – vor denen niemand uns mehr in Schutz nehmen wird.
Ich bin sicher: auch in Europa hätte Donald Trump mittlerweile Chancen, eine Wahl zu gewinnen. Was 2016 noch objektiv unvorstellbar war, könnte acht Jahre später klappen. Auf einem Kontinent, wo fast jedes Land aus Prinzip wieder Grenzkontrollen veranstaltet, wo europäische Politik in der Welt nicht durch wirtschaftliche Leistung, sondern durch Verhinderung von Migration mit Gewalt projiziert wird und wo über die Hälfte der Menschen der Meinung sind, wir sollten doch endlich Vladimir Putin machen lassen, was er will – ja, dort könnte Trump auch gewählt werden. Weil Europa in den Augen zu vieler Menschen auf unserem eigenen Kontinent versagt hat und angesichts der Herausforderungen unserer Zeit weiter versagt.
Unter all diesen Umständen ist es gut, dass Trump jetzt gewählt wurde. In den USA, wohlgemerkt. Denn dadurch hat Europa jetzt eine allerletzte Chance, sich endlich zusammenzureißen und dafür zu sorgen, dass sowohl Trump selbst als auch sein Sieg für Europa das gleiche sind, wie Europa für ihn: Unerheblich. Wenn Europa es schafft, sich selber endlich so groß zu machen, wie wir objektiv in aller Bescheidenheit sein können, dann werden jene hier Wahlen verlieren, die in Europa die gleiche Agenda verfolgen, wie Trump in den Vereinigten Staaten.
Übrigens: ja, es könnte sein, dass Trump anstrebt, in den USA eine Diktatur zu errichten. Es könnte sein, dass er in den kommenden Jahren die Verfassung ändern will, die Unabhängigkeit der Justiz aushebeln und die Abschaffung der Mandatsbegrenzung anstreben. Das alles ist nicht unser Problem. So wie Europa nicht seins ist. Das muss die Haltung sein, die Abgeklärtheit, mit der Europa einer zweiten Amtszeit von Donald Trump begegnet.
Trump als Präsident der USA sollte für Europa die Wirkung eines Angriffs Außerirdischer auf die Menschheit haben: wir müssen jetzt begreifen, dass wir anders sind als die, dass wir genauso stark und stärker sein können, dass wir unseren eigenen Weg finden und resolut beschreiten werden. Europa braucht sich nicht zu beugen oder ängstlich zu der orangen Haarpracht aufzuschauen, weil die Fantasien ihres Besitzers uns egal sein können. Europa ist fähig, Allianzen in der Welt zu bilden, die nicht mehr nur die Bündnistreue zu den USA als Grundlage haben, sondern unsere eigenen Interessen, denn: die haben wir!
Wir brauchen in Europa nicht heuchlerisch so zu tun, als wären alle Demokraten einem Quäntchen Populismus abhold. Viele Millionen Europäer erwarten von den Regierenden auf unserer Seite des Atlantiks schon lange, dass wir uns etwas von den USA absetzen und eine eigene Agenda, für den Kontinent und die Welt entwickeln. Wir sollten Trump Frieden anbieten – nicht den luxemburgischen, sondern den globalen – und dazu bereit sein, friedlich mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir sollten aber auch dazu bereit und fähig sein, unfreundschaftliches Verhalten mit ebensolchem zu vergelten. Das hätten wir schon länger tun sollen. Der 20. Januar 2025, wenn Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten eingeschworen wird, sollte nun endlich der Unabhängigkeitstag Europas werden.
Es gibt keinen Grund, weshalb Europäer bei der Einreise in die USA schikaniert werden, während das umgedreht völlig anders ist. Es gibt keinen Grund, weshalb wir ein von der Bevölkerung Europas verabscheutes Freihandelsabkommen mit den USA unbedingt gegen unsere europäische Wählerschaft durchsetzen sollten, wenn wir statt dessen sinnvollere Abkommen mit China, Indien und Afrika haben können. Es gibt keinen Grund, weshalb wir uns nicht politisch, wirtschaftlich, sozial und gar verteidigungspolitisch viel enger mit Kanada verzahnen würden, und so die Abhängigkeit von den USA in eine wirkliche Partnerschaft verwandeln würden, weil wir es durch eigene Stärke können. Trump verachtet uns, weil wir in seinen Augen schwach sind, ein Abklatsch unseres alten Selbst. Zeigen wir ihm, dass er unrecht hat.
Unser größter Gegner bei dieser Unternehmung ist nicht Donald Trump. Es sind wir selbst. Die unzähligen Europäer, die Halt in den Armen jener gefunden haben, die den nationalen Rückzug dem europäischen Fortschritt vorziehen. Die politisch Verantwortlichen, die kein ausreichendes Wissen, keinen ausreichenden Mut und keine ausreichende Überzeugung besitzen, um Europa zu einer globalen Referenz in Sachen guter Regierungsführung und Rechtsstaat, wirtschaftlicher Modernität im Dienste des sozialen Fortschritts und der Klimaverträglichkeit, sowie gesellschaftlichem Zusammenhalt durch gemeinsam getragene und vermittelte Werte zu machen. Wir alle, die wir es verpassen, unsere erheblichen Mittel für schnelles Vorwärtskommen bei einer Dekarbonisierung zu nutzen, die den Menschen neue Perspektiven, Arbeitsplätze, Lebensqualität bringen wird. Das alles kann sich glücklicherweise ändern. Mit Donald Trump im Weißen Haus wird es sich ändern müssen. Und zwar schnell.
Europa braucht nun den Willen zur Selbstbehauptung.
- In der Wirtschaft, durch die Mobilisierung unser eigenen Ressourcen und ein kompromissloses Verhindern weiterer Übernahmen strategischer Positionen und Werte durch Dritte, auch durch Amerikaner;
- Bei der klimapolitischen Transition durch die Bereitstellung jener Summen und Finanzierungsinstrumente, die für das Erreichen unserer Klimaziele bereits 2030 notwendig sind, auch für internationale Partnerschaften zur Produktion und Nutzung erneuerbarer Energien, und die schnelle Verwirklichung der Energieunion;
- Beim Umgang mit einer aus dem Ruder laufenden Migration durch Abkommen mit Herkunftsländern, funktionierende Anlaufstellen für Auswanderungskandidaten in ihren Heimatländern und sichere Wege, sowie resoluten und konsequenten Schutz der Außengrenzen der Union auch durch Zerstörung der Menschenhandels-Organisationen in Drittländern und das Patrouillieren vor deren Küsten;
- Bei der außenpolitischen Positionierung durch Formulierung und Durchsetzung europäischer Strategien im Umgang mit den östlichen und südlichen Partnerstaaten, mit dem afrikanischen Kontinent, mit China, Indien, Iran, der Türkei, und den Ländern der arabischen Halbinsel;
- In der Verteidigungspolitik, durch den konsequenten und koordinierten Ausbau der militärischen Kapazitäten unseres Kontinents und den weitgehenden Ausbau der Europäischen Politischen Gemeinschaft zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – und zwar bevor ein möglicher NATO-Austritt der USA Europa erst einmal verteidigungsunfähig und hilflos macht;
- In der Handelspolitik durch sofortige Aufnahme von Bestrebungen, mit China, Indien und Afrika Handelsabkommen zu schließen, die auch multilateral angelegt sein können und beispielsweise in Afrika zu einer von mehreren Akteuren gleichzeitig begleiteten und geförderten Handels- und Entwicklungsdynamik führen sollen;
- Gegenüber Russland durch resolute Abschottung gegenüber russischer Einflussnahme in Wirtschaft, Medien und Gesellschaft sowie die Bereitschaft, demokratisch und rechtsstaatlich gesinnte russische Auswanderer in ihrem Bestreben zu begleiten, ein europäisch orientiertes Russland zu konzipieren und zu projizieren.
Wenn Europa das alles hinkriegt, war die Wahl Donald Trumps die grösste Chance, die Europa je bekam. Wir müssen sie nutzen, wie er seine zweite Chance nutzen wird. Wir haben dafür keine vier Jahre Zeit. Wir sollten sehr schnell einen Plan haben und diesen dann ohne Zögern und zaudern umsetzen. Am Unabhängigkeitstag Europas müssen die Leitlinien des Plans verkündet werden. Am 20. Januar 2025. Damit bis zu Trumps erster „4th July“ Rede klar ist, dass Europa klarkommt. Auch mit Donald Trump.
Bis er irgendwann weg sein wird, und wir stärker und geeinter als je zuvor.