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Rietsruck – wéi genee soll dat goen ?

Viele erwarten von den Europawahlen im Juni, dass sie das Europäische Parlament dramatisch nach rechts verschieben. Tatsächlich ist in den aktuellen Umfragen von einem Erdrutsch nach rechts wenig zu sehen. Auch, und besonders, dann nicht, wenn man einmal von den rein politisch motivierten Aussagen einiger EVP-Granden absieht. Denn was von der Leyen im europäischen Wahlkampf und die CSV im luxemburgischen in Sachen Rechtsruck so von sich geben, hat viel mit elektoraler Taktik und wenig mit echter Bedrohung zu tun.

Zur Sachlage. Die Umfragen sagten am 15. Mai folgendes. Die EVP wird stärkste Fraktion mit 174 Sitzen, es folgt die S&D-Fraktion mit 144 Sitzen. Drittstärkste Fraktion – knapp, aber immerhin – Renew mit 85. Dann folgen ID mit 84 und ECR mit 70 Sitzen. Und irgendwo würde es auch noch rund 40 „non-inscrits“ geben, die man aber in keine Rechnung aufnehmen kann, weil sie extrem divers sein werden, und durchaus nicht alle rechtsradikal. Ein Beispiel? Man mag von der „Partei“ in Deutschland halten, was man will, rechtsextrem ist sie sicher nicht – und stellt aktuell zwei nicht fraktionsgebundene Abgeordnete im EP.

Es ergibt sich also aufgrund der aktuellen Umfragen folgendes Bild. ID und ECR zusammen kämen auf 154 Sitze. Diese zwei Fraktionen sind eindeutig „rechts“, die ID eher rechtsextrem. Rechnet man dann noch zwanzig oder dreißig „non inscrits“ in dieser Rubrik dazu, dann kommt man vielleicht auf 180 rechte Sitze. Das sind etwa so viele, wie die EVP haben soll – in einem Parlament von 720 Mitgliedern nach der nächsten Wahl. Weniger als ein Viertel. Mehr als vorher, aber nicht annähernd so viele, dass Politik ohne diese Abgeordneten nicht mehr möglich wäre. Im Gegenteil. Politik wird NUR ohne sie möglich sein.

Wenn Ursula von der Leyen davon fabuliert, dass man doch mit der ECR-Fraktion zusammenarbeiten könnte, dann mag das für ihre Gesinnungsgenossen mehrheitlich eine akzeptable Aussage sein, aber für niemanden sonst in der politischen Mitte. Mit anderen Worten: die EVP und die ECR, das ginge zwar vielleicht, aber das sind Stand heute zusammen weniger als 250 Abgeordnete. Sogar wenn – dafür gibt es keinerlei Anzeichen, aber nehmen wir einmal an, die EVP dreht völlig auf rechts – dann die ID-Fraktion mit RN, AfD und sonstigem dekorativen Inhalt dazu stoßen würde, ergäbe das etwa 330 Abgeordnete – und damit dreißig zu wenig für eine Mehrheit. Ich will niemandem unterstellen, mit der ID koalieren zu wollen, sondern lediglich anhand der Zahlen klarstellen: es gibt keine rechte Mehrheit. Damit ist nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Vorstellbarkeit einer Mehrheit mit der ECR vom Tisch.

In einem Parlament mit 720 Mitgliedern würden 180 stramm rechte Abgeordnete 540 entgegenstehen, die das nicht sind. Die Mehrheit liegt bei 361. Demnach bleibt viel Luft für eine demokratische, europäische, ukrainefreundliche Mehrheit, die auf keinen Russland-Verehrer, keinen Migranten-Hasser und keinen Covid-Verschwörungstheoretiker angewiesen ist. Und genau diese Mehrheit muss sich nach dem 9. Juni finden. Sie ist in den Rängen von EVP, S&D, Renew und Grünen zu suchen.

Die EVP hatte in der vergangenen Legislaturperiode, genau wie in den vorherigen auch, ein Problem. Es gab eigentlich immer eine „linke“ Mehrheit, die im Bedarfsfall auch ohne die EVP Dinge durchbringen konnte. Die wird es aller Voraussicht nach im kommenden Parlament nicht mehr geben. Die EVP hat sich in der vergangenen Legislaturperiode, wie in all den vorangegangenen, immer und ständig über diese „andere“ Mehrheit beklagt. Nun wird es sie nicht mehr geben. Damit müsste der Anspruch der EVP jetzt sein, belastbare und robuste Absprachen mit vernünftigen Partnern zu erzielen und durch die entsprechende Offerte ihren Führungsanspruch zu legitimieren. Mit einer solchen Attitüde würde sie Stärke zeigen. Sich ständig selbst als Bollwerk gegen Rechts zu inszenieren, das dann doch gegebenenfalls zu Arrangements mit Rechts bereit wäre, zeugt eigentlich von Schwäche.

Wir mögen als Vertreter der politischen Familien der breiten Mitte über die Höhe von Mindestlöhnen streiten, über Wasserstoff oder über eine Bahntrasse, aber wir dürfen nicht über die Methode der politischen Auseinandersetzung streiten. Extremisten haben keinerlei Respekt vor Mehrheiten, Kompromisssuche und politischer Korrektheit, die eine Form des menschlichen Anstands ist. Extremisten wollen ihre eigene Sache durchbringen, mit allen Mitteln. Von Korruption über die Verbreitung von Falschinformationen, persönlicher Diffamierung und gewalttätigen Angriffen ist für sie alles erlaubt. Auch wenn es verboten ist. Davon darf sich die breite Mitte weder anstecken, noch verunsichern lassen.

Die Wähler werden am 9. Juni die große Kategorie „rechts“ nicht derart stärken, dass politische Gestaltung von dieser abhängig würde. Und sie werden erwarten, dass die politischen Familien, die den Kontinent bis jetzt gestaltet haben, auf der Höhe der Erwartungen sind, die in sie gesetzt werden. Europa muss liefern, und es wird in den nächsten fünf Jahren deutlich mehr liefern müssen, als es das in den letzten Jahren getan hat. Wenn es dazu fähig ist, zu liefern, werden Extremisten von alleine geschwächt. Sie beziehen ihre Vitalität aus Unzufriedenheit und Angst. Also müssen wir gemeinsam den Europäern die Angst nehmen und ihnen Grund zur Zuversicht vermitteln. Das geht nur, indem endlich neue Erfolge vermeldet werden können. Ständig die alten mit neuer Technologie zu kommunizieren und dafür Begeisterung zu erwarten, hat nicht funktioniert und wird nicht funktionieren.

  • Die Energiewende muss die nötige Infrastruktur und das nötige Tempo bekommen.
  • Die europäischen Armeen müssen so ausgebildet, ausgerüstet und miteinander verzahnt werden, dass sie ohne Hilfe von außen ein Bild europäischer Stärke vermitteln – und uns im Zweifelsfall auch alleine verteidigen können.
  • Die Erweiterung der Union auf alle Beitrittskandidaten muss abgeschlossen werden. Nicht begonnen, nicht angedacht – abgeschlossen!

Dafür braucht es institutionelle Reformen, wie das Abschaffen aller Vetos, die Direktwahl des Kommissionspräsidenten und transnationale Listen.

Wenn das alles nicht gelingt, brauchen wir in fünf Jahren nicht mehr wählen zu gehen, weil dann nichts mehr da ist, dass man noch wählen könnte. Das ist das Kalkül der Extremisten, und es ist das Kalkül Putins. Dass Europa es nicht schaffen wird. Dass die EU auseinanderbricht. Dass der Kontinent in Kleinstaaterei und Schwäche zurückfällt, und dem russischen Imperium huldigen wird immerdar. Das braucht kein Mensch. Ich will Putin nicht huldigen. Ich will in fünf Jahren wieder wählen gehen.

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