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Posten an Europa – eng Beliichtung mat subjektiver Objektivitéit

Am Wahlabend des 9. Juni wird er losgehen, der große europäische Postenschacher, bei dem es um die Besetzung einer kleinen Zahl von europäischen Spitzenpositionen gehen wird. Dazu gehören der Kommissionspräsident oder die Kommissionspräsidentin, der Ratspräsident, der Parlamentspräsident und in der Kommission mindestens noch der HighRep, der Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik. Gegebenenfalls kann es zusätzlich einen oder mehrere „exekutive VizepräsidentInnen“ der Kommission geben. Alles in allem werden so ein kleines halbes Dutzend Posten besetzt. Und eigentlich findet etwas statt, was im nationalen Kontext als ganz normale Koalitionsverhandlung betrachtet wird.

Vor fünf Jahren stand rund einen Monat nach den Europawahlen das Tableau ziemlich fest. Der Spitzenkandidat der EVP wurde vom Rat der Staats- und Regierungschefs nicht getragen – wohl hauptsächlich aufgrund der Tatsache, dass er „lediglich“ Fraktionsvorsitzender im Europäischen Parlament war und keinerlei Regierungserfahrung mitbrachte. Nach einer kurzen Zeit, in der es schien, als wolle der Rat den sozialistischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans vorschlagen – die EVP verhinderte das – einigte man sich bei den Staats- und Regierungschefs darauf, dass Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin werden solle. Die war zwar nicht Spitzenkandidatin, eigentlich überhaupt nicht Kandidatin für die Kommission, aber sie war langjährige Ministerin eines großen Landes, gehörte einer EVP-Partei an und war Vertraute der deutschen Regierungschefin. Und sie ist etwas, was noch kein Kommissionspräsident zuvor war: eine Frau. Das alles zusammen zog.

Der Europäische Rat bestimmte Charles Michel zu seinem Vorsitzenden – was angesichts einer zu jenem Zeitpunkt vergleichsweise starken liberalen Präsenz in diesem Gremium eine logische Entscheidung war. So erhielt ein liberaler Spitzenpolitiker, sicherlich auch aufgrund der Unterstützung von Emmanuel Macron, einen europäischen Spitzenjob. Frans Timmermans wurde „Erster exekutiver Vizepräsident“ der Kommission, Josep Borrell „europäischer Außenminister“ und David Sassoli Parlamentspräsident für die erste Hälfte der Legislaturperiode. Damit erhielten drei Sozialdemokraten herausragende Funktionen, wobei David Sassoli in der zweiten Hälfte der Legislatur von der EVP-Parlamentarierin Roberta Metsola abgelöst wurde. Diese Teilung des Präsidentenamtes – und aller weiterer Funktionen – nach der ersten Mandatshälfte des EP ist seit Jahrzehnten normale Praxis.

Ursula von der Leyen wurde mit einer Mehrheit von lediglich 9 Stimmen ins Amt votiert. Das hätte auch schiefgehen können. Obwohl eigentlich EVP, Sozialdemokraten und Liberale sich an der Koalition zur Unterstützung der neuen Kommission beteiligen wollten, fehlten ihr viele Stimmen der „Koalitionspartner“, insbesondere der Sozialisten. Das hatte wohl damit zu tun, dass man nicht gerne akzeptierte, dass der Spitzenkandidat der Europäischen Sozialisten doch nicht als Kommissionspräsident vorgeschlagen wurde. Doch die Koalition hielt im Grundsatz die fünf Jahre der Legislatur durch. Noch einmal sollte man sich dieses Mal nicht auf eine Zufallsmehrheit am Beginn verlassen. Es wird gesicherte Stabilität in der kommenden Legislatur gebraucht.

Ich habe diese Beschreibung der Postenbesetzung anno 2019 an den Anfang gesetzt, um zu verdeutlichen, dass sie durchaus einer bestimmten Logik folgt. Es werden Vertreter all jener politischen Familien bedacht, die sich an der faktischen Koalition zur Umsetzung eines Kommissionsprogramms beteiligen wollen. Nur so kann eine Koalition halten – das wäre im nationalen Kontext nicht anders. Niemand tritt einer Koalition bei, ohne auch Regierungsämter besetzen zu können, oder mindestens sonstige herausragende Funktionen wie jene des Parlamentspräsidenten. Und so wird es auch dieses Jahr sein.

Die EVP will eigentlich alles präsidieren, Kommission, Rat, Parlament. Doch sie wird nur rund ein Viertel der Parlamentsmandate besetzen. Ein Viertel, nicht drei Viertel. Sie regiert zwar aktuell in einer Mehrheit der Mitgliedstaaten (mit), doch ausschlaggebend für die wesentlichen Besetzungen in der Kommission wird die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments sein. 

Einmal angenommen, die EVP übernimmt den Vorsitz im Europäischen Rat. Dafür dürfte es Kandidaten geben, und diese werden wohl auch einer Mehrheit der Mitglieder des Rates vermittelbar sein. Und bei allem Sinn für Humor: Xavier Bettel wird nicht Ratspräsident. Und Europa rutscht auch deswegen nicht in eine institutionelle Krise. Nicht einmal Jean-Claude Juncker besaß den Schneid, sich derart zum unverzichtbaren Heiland aufzuspielen. Gut möglich, dass er auch deswegen eine europäische Spitzenfunktion einnehmen konnte, und Bettel eben nicht.

Im Parlament wird Roberta Metsola alles daransetzen, nach dem Vorbild von Martin Schulz noch mindestens eine halbe Legislaturperiode bleiben zu dürfen. Damit ginge ein weiterer Spitzenposten an die EVP, für die stärkste Fraktion nicht unnormal. Ab hier ist es dann allerdings nicht mehr selbstverständlich, dass Ursula von der Leyen dann auch noch Kommissionspräsidentin wird. Das ist zwar durchaus möglich, aber nicht gegeben. Und wenn sie es wird, wird sie von führenden Vizepräsidenten der Kommission aus anderen politischen Familien umgeben werden. Denn: irgendwie muss man auch Sozialisten und Liberale zufriedenstellen, ohne die es keine tragfähige Mehrheit für Frau von der Leyen geben wird, und vielleicht sogar die Grünen mit an Bord nehmen. Diese drei Fraktionen könnten zusammen um die 275 Abgeordnete stellen. Man kann sich natürlich auch – deswegen finden diese Hirngespinste jetzt auch ihren Weg in die öffentliche Debatte – nach ganz Rechts umschauen.

Das Problem der EVP wird hierbei nicht die politische Moral sein, sondern ganz einfach die Realität der Zahlen. Die EVP und die wahrscheinliche Konservative Fraktion – man weiß noch nicht abschließend, wer dort alles sitzen wird – kommen in aktuellen Umfragen auf rund 250 Sitze. Damit fehlen weit über hundert für eine Mehrheit. Und: niemand sonst wird sich einer solchen Rechtsallianz anschließen. Niemand.

Wenn am Wahlabend Nicolas Schmit, als Spitzenkandidat der Europäischen Sozialisten, ein Wahlergebnis vorweisen könnte, wie es aktuelle Umfragen vorhersagen, dann käme seine Fraktion auf knapp 150 Sitze. Es wird auch noch über vierzig Grüne im EP geben, und somit könnte Schmit wahrscheinlich mit den Grünen zusammen auftreten und für sich reklamieren, als Chef einer faktischen parlamentarischen Allianz mit fast 200 Mitgliedern, eine Mehrheit für die Unterstützung einer Kommission unter seiner Präsidentschaft zu suchen. Die liberale Fraktion mit wohl gut 80 Mitgliedern würde sich dieser Demarche anschließen können, die EVP wäre isoliert. Angesichts der Tatsache, dass sie andere Präsidentenposten durchsetzen will, könnte jener der Kommission dann plötzlich zur Verhandlungsmasse werden. Und wenn die EVP an dieser spezifischen Präsidentschaft besonders interessiert ist, könnte sie Ansprüche auf andere zurückstellen müssen. Mindestens jedoch wird sie einen oder zwei sehr starke Kommissionspräsidenten-Stellvertreter akzeptieren müssen, die nach der schwachen Performance von Frans Timmermans in solcher Funktion auch persönlich werden liefern müssen – und wollen.

Es geht nicht darum, ob Ursula von der Leyen einen guten oder schlechten Job gemacht hat. Es geht schlicht darum, wie man die Mitglieder einer Koalition der europäischen Vernunft miteinander in Ausgleich und Einklang bringt. Eines scheint mir klar: das wird nicht gehen, indem die EVP alle Präsidentenposten für sich einfordert. Dafür ist sie im EP einfach zu schwach. Und je eher sie einsieht, dass man weder mit ganz rechts koalieren kann um Europa weiterzubringen, noch mit diesbezüglichen Andeutungen bei den benötigten Partnern weiterkommt – die durchaus auch als Drohung aufgenommen werden können – desto besser sind ihre Chancen, das durchzusetzen, was sie wirklich durchsetzen will. Was auch immer das dann im Gesamtpaket ist.

Es kann durchaus anders kommen, als von vielen jetzt gedacht. Klar ist: die Mehrheit im Europäischen Parlament für die kommenden fünf Jahre muss stabil und handlungsfähig sein. Es werden sehr verbindliche Absprachen gebraucht, und es sind belastbare persönliche Beziehungen nötig, um Zufallsmehrheiten und alternative Formate ausschließen zu können. Im Übrigen: in der Kommission wird es wohl auch spannende neue Zuständigkeiten geben, ebenso wie im Parlament. Die Dinge beschränken sich auf jeden Fall nicht darauf, wer nächste(r) KommissionspräsidentIn wird.

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