
Vor 12 Jahren erschien “The Sleepwalkers : How Europe Went to War in 1914”. In diesem Buch beschreibt der australische Historiker Christopher Clarke, wie Europa in den Ersten Weltkrieg taumelte. Das war 100 Jahre vor Putins Angriff auf die Ukraine 2014.
Parallelen bestehen heute nicht nur zu 1914, sondern auch zu 1939. Diese haben den polnischen Regierungschef Donald Tusk dazu veranlasst, in seinem ersten grossen internationalen Interview von einer neuen Vorkriegszeit zu reden. Er selbst bemüht dort ein Foto des mit fröhlichen Urlaubern gefüllten Strandes seiner Heimatstadt Sopot im August 1939, aufgenommen ein paar Tage bevor nur wenige Kilometer entfernt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann. Auch damals hofften viele – entgegen der durch Hitlerdeutschland bereits geschaffenen Fakten – dass es „peace in our time“ geben würde, wie der britische Vorkriegspremier Neville Chamberlain es 1938 bei seiner Rückkehr von der Münchner Konferenz mit Hitler, dem französischen Premierminister Daladier und dem Abgesandten Mussolinis, ausdrückte. Ein Jahr später begann Hitler den Zweiten Weltkrieg.
Sowohl 1914 als auch 1939 existierten in Europa Allianzen, die allerdings eine variable Geometrie hatten, je nach aktueller nationaler Interessenlage und später der jeweiligen Kriegsentwicklung. Wir haben es heute in Europa glücklicherweise nicht mehr mit einem solchen zwischenstaatlichen der momentanen Allianzen zu tun, sondern mit stabilen Organisationsblöcken. Die russischen Kriegstreiber, für die der Krieg mittlerweile zur veritablen raison d’être geworden ist, verfügen nicht über individuelle Alliierte innerhalb der Europäischen Union, oder der NATO. Dennoch ist es meiner Meinung nach völlig unfraglich, dass Russland versuchen wird, seine Kriegführung über die Ukraine hinaus auszudehnen. Das liegt eben daran, dass das Land nur noch im Kriegsmodus funktionieren kann.
Das Überleben, auch das rein biologische, seiner politischen Führung hängt auf Gedeih und Verderb davon ab, dass diese nach innen die ständige Bekämpfung von irgendwelchen Feinden vermitteln kann. Die russische Wirtschaft ist heute eine reine Kriegswirtschaft, deren Leistungsfähigkeit politische Unzufriedenheit mit bescheidenem ökonomischem Erfolg und Wohlstand zu übertünchen vermag. Russland muss nun, zumindest solange Vladimir Putin es führt und überleben will, Krieg führen. Die entsprechende Eskalationsrhetorik der Machthaber und der Staatspropaganda wird allerdings über kurz oder lang eine direkte Konfrontation mit der NATO nötig machen. Dabei geht es immer um das gleiche: den Erhalt und die Festigung der aktuellen russischen Herrschaftsstrukturen und das körperliche Überleben Putins.
Putin wird die direkte Konfrontation mit der NATO suchen. Das kann über eine vermeintliche notwendige Schutzmassnahme, eine „Spezialoperation“, gegenüber Transnistrien passieren, womit die NATO an ihrer rumänischen Grenze provoziert und sogar angegriffen werden könnte. Möglich sind „Zwischenfälle“ um das Gebiet Kaliningrad herum, an dessen Grenze zu Polen oder Litauen, oder der Versuch physischer Massnahmen zum „Schutz“ der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland und Estland. Es könnte Vorfälle im Norden geben, an der russischen Grenze zu Norwegen oder Finnland. All dies ist vorstellbar, auch eine Kombination solcher Begebenheiten. Auf all diese Eventualitäten müssen wir vorbereitet sein, wenn wir nicht wie die Schlafwandler in einer zerstörerischen Mischung aus Überraschung, mangelnde Vorbereitung und Unfähigkeit zur korrekten Gegenmassnahme in einen grösseren Krieg taumeln wollen.
Gegen die Schlafwandelei in einen grösseren Krieg helfen ein paar Dinge.
Das erste ist, dass Europa endlich damit aufhört, so zu tun, als ob es eine militärische Konfrontation – einen Krieg – mit Russland um jeden Preis vermeiden will. Das ist genau das, was die russische Führung will, denn sie stellt so ihre eigene Entschlossenheit dem europäischen Zaudern entgegen. Um es klar auszudrücken: die Ukraine muss weiter bewaffnet werden, mit allem, was die westlichen Arsenale hergeben. Wenn damit auf russische Ziele geschossen wird, dann ist es eben so. Wenn wir die Ukraine schon alleine kämpfen lassen, sollten wir nicht auch noch feige bei ihrer Belieferung mit den notwendigen Waffensystemen sein. Moskau muss eindringlich vermittelt werden: Wir werden verhindern, dass ihr diesen Krieg gewinnt. Und wir werden nie mehr zulassen, dass ihr jemanden von uns bedroht oder angreift.
Das zweite ist, Kaliningrad auf dem Land- und Seeweg zu blockieren. Parallel dazu muss die Transnistrien-Angelegenheit gelöst werden. Dies sind die beiden Territorien, von denen sehr wahrscheinlich die nächsten Provokationshandlungen ausgehen werden. Wir müssen dem dadurch vorzubeugen versuchen, dass EU und NATO das Risikopotenzial bewaffneter Aktionen Russlands von diesen Territorien aus oder auf sie zu minimieren. Das bedeutet, dass die dort verfügbaren Streikräfte von EU und NATO-Staaten in Zahl und Ausrüstung auf Kriegshandlungen vorbereitet und zu ihnen fähig sein müssen. Und dass kein Zweifel darüber besteht, dass im Aggressionsfall beide Territorien für Russland verloren sind.
Das dritte ist: Russland muss von einer weiteren Seite dazu gedrängt werden, von kriegerischen Handlungen abzusehen. Ausser Nordkorea, Südafrika und ein paar weiteren Verrückten darf niemand Vernünftiges mehr an Russlands Seite stehen. Auch, und insbesondere, nicht China. Deshalb ist es in höchstem Masse geboten, mit China in ernste Gespräche über Eskalationsvermeidung einzutreten. Nicht die Europäer, schon gar nicht die Ukrainer, müssen mit Russland reden, sondern die einzige Macht, die über die Hebel verfügt, Russland und seine Führer zur Raison zu bringen. Das ist jenes Land, von dem Russland mittlerweile wirtschaftlich völlig abhängig ist. Nicht Nordkorea liefert Autos, Batterien, Lebensmittel, Energieträger, Konsumgüter aller Art. Südafrika liefert sowieso überhaupt nichts. Liefern tut China. China kann die Lieferungen jederzeit einstellen und zusammen mit Europa dazu beitragen, dass auch sonst niemand mehr irgendwas wichtiges nach Russland verschifft.
So komisch es mittlerweile klingt: China braucht Anerkennung und Partnerschaften in der Welt, nicht Konfrontation. China kann mit diplomatischen Mitteln, aber vor allem mit jenen der Handelspolitik, durchaus dazu ermutigt werden, Russland an die kurze Leine zu nehmen. Das wiederum setzt eine dramatische Stärkung der europäischen Handels- und Investitionspositionen in der Welt voraus. Es setzt voraus, dass Europa seinen Energiebedarf dringend auf erneuerbare Manier deckt, dass es aktive Verbündete in Afrika, Asien und Lateinamerika findet, und dass es sich mit China darüber einigt, wie wir gemeinsam die Entwicklung des afrikanischen Kontinents begünstigen und fördern können. Nur so kann auch dort verhindert werden, dass Russland mit seinen Söldnern den Kontinent in Brand steckt. Mit anderen Worten: Europa muss stark genug werden, damit es von China und anderen wesentlichen Akteuren als starker und essenzieller Partner angesehen wird. Vielleicht – wahrscheinlich! – steht dann auch die Invasion Taiwans nicht mehr so dringend auf der chinesischen Agenda.
Wir haben die Wahl – noch. Wir können Russland davon abhalten, die Erde in die Luft zu sprengen, wenn wir resolut und mutig alle dafür notwendigen Hebel in Bewegung setzen. Oder wir können, wie die Schlafwandler 1914 und die Friedensträumer 1938, dabei zusehen, wie unsere Welt aus den Fugen gerät, und zerstörerisches Chaos unsere Zukunft bestimmt. Weil wir wieder einmal zu träge und zu feige waren, es zu verhindern.